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Fakultät Rehabilitationswissenschaften

Diagnostik bei Verdacht auf selektiven Mutismus

„Mein Kind ist sehr zurückhaltend und hat Probleme, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Im Kindergarten spricht es auch nach mehreren Wochen Eingewöhnungszeit weder mit den Erzieher*innen noch mit den Kindern. Zuhause ist es wie ausgewechselt, ganz lebendig, und der Mund steht nicht still.“

Die medizinische Diagnosestellung „selektiver Mutismus“ erfolgt ausschließlich über einen Arzt. Als sprachtherapeutische Einrichtung können wir jedoch sogenannte Verdachtsdiagnosen stellen. Unsere akademischen Sprachtherapeut*innen können auf der Basis ihrer langjährigen Erfahrung sehr sicher das jeweilige klinische Erscheinungsbild eines schweigenden Kindes/Jugendlichen einordnen. Sie können einschätzen, ob es sich um eine Sprechängstlichkeit des Kindes (etwa in der Schule) handelt oder doch um konsequentes Schweigen wie bei Mutismus.

Ziel der Diagnostik ist es außerdem, das Schweigen des Kindes/Jugendlichen in seinen systemischen Zusammenhängen zu erfassen (beispielsweise in welchen Situationen es/er schweigt bzw. spricht) und erforderliche weitere Schritte der Behandlung/Beratung abzustimmen.

Organisatorisch beinhaltet das diagnostische Setting

  1. einen knapp einstündigen Termin mit dem Kind bzw. Jugendlichen und
  2. ein ausführliches Gespräch mit den Eltern, welches zu einem späteren Zeitpunkt ohne die Anwesenheit des Kindes/Jugendlichen stattfindet.

Bei jüngeren Kindern geht es zu Beginn in erster Linie darum, in einer möglichst angstfreien Atmosphäre mit dem Kind in Kontakt zu kommen und zu beobachten, auf welche Art und Weise es kommuniziert.

Oft erfolgt die Kontaktaufnahme über eine Handpuppe, die von vielen Kindern gut angenommen wird. Die Kinder müssen hier nicht sprechen oder andere Leistungen erbringen, sondern wir möchten ein möglichst realistisches Bild über das Verhalten des Kindes gegenüber einer fremden Person erhalten.

Die Kinder können gerne etwas Vertrautes von zu Hause mitbringen (z. B. ein Kuscheltier). Wenn Kindern die Trennung von den Bezugspersonen noch sehr schwer fällt, darf ein Elternteil in der Stunde mit anwesend sein. Mutter oder Vater bilden einen Rückhalt und können nach Wunsch des Kindes in das Spielgeschehen mit eingebunden werden.

Mit Schulkindern oder Jugendlichen thematisieren wir den Grund ihres Kommens zu Beginn der Stunde. Es wird vermittelt, dass in dieser Stunde gesprochen werden kann, aber nicht muss. Wir erklären, dass auch andere Kinder und Jugendliche mit demselben Problem zu uns kommen und welche Hilfen es für sie geben kann.

Ein Teil der Diagnostik wird dann gemeinsam erarbeitet: Mit Hilfe von Schriftsprache oder im Ankreuzverfahren wird eine sogenannte „Landkarte des Sprechens und des Schweigens“ (Katz-Bernstein 2011) erstellt: Mit wem wird gar nicht/wenig/normal gesprochen? Wo wird konsequent geschwiegen? etc. Wichtig ist uns auch die Thematisierung der eigenen Motivation, am Problem zu arbeiten.

Im Elterngespräch – ohne Anwesenheit des Kindes/Jugendlichen – werden Fragen zur Entwicklung des Kindes, zum Thema Sprechen bzw. Schweigen, zu Freizeitaktivitäten und Vorlieben des Kindes sowie zu Freundschaften, Stärken und Schwächen etc. besprochen.

So können wir einen differenzierten Eindruck vom Kind/Jugendlichen, seiner Persönlichkeit und dem Hintergrund seines Schweigens erhalten.

Das Schweigen als ein für das Kind nicht bewusstes, doch grundsätzlich sinnhaftes Phänomen zu begreifen, ist die wichtigste Grundlage für alle weiteren Hilfestellungen. Unsere Mutismus-Therapeut*innen geben den Eltern viel Raum, um Fragen zu stellen, die beispielsweise den Umgang mit dem Schweigen in verschiedenen Situationen betreffen, aber auch den Umgang mit Kritik oder oftmals gut gemeinten Ratschlägen Anderer.

Bei Bedarf können dem ersten Elterngespräch weitere Beratungsgespräche (etwa mit Kindergarten oder Schule) folgen.

Gerade bei Verdacht auf einen selektiven Mutismus hat sich ein ausführlicher Befundbericht, der über den Umfang des obligatorischen Verordnungsberichts hinausgeht, als hilfreich erwiesen. Gerne erstellen wir einen solchen Bericht. Dieser müsste dann von der verordnenden Ärzt*in über ein Formular, welches den Eltern mit den Anmeldeunterlagen per Post zugeschickt wird, gesondert anfordert werden (bitte das bestätigte Formular zum ersten Termin mitbringen).

Der Bericht wird der Ärzt*in und den Eltern sowie auf Wunsch auch weiteren Fachpersonen (Kindergarten, Schule) zur Verfügung gestellt.